Wie Pat McGrath eine einflussreiche Visagistin wurde

Für Donatella Versace ist das an diesem Abend Ende September in Mailand ein Wagnis: eine Modenschau im Innenhof des Castello Sforzesco, also draußen, unter freiem Himmel, kann das gutgehen? Für eine Septemberschau in Mailand dürfte das gleiche gelten wie für eine Sommerhochzeit in Deutschland: besser unabhängig vom Wetter bleiben.

Mit Regen ist immer zu rechnen, siehe die Gucci-Schau genau ein Jahr zuvor. Das Debüt von Sabato de Sarno war abgestimmt auf die Kulisse des Hofs der Accademia di Belle Arti di Brera. Dann meldeten sämtliche Wetter-Apps Regen. Alles musste nach drinnen verlegt werden, und die Planänderung wurde zum bösen Omen. Wirtschaftlich kam Gucci anschließend vom Regen in die Traufe.

Eine langjährige Zusammenarbeit

Andererseits, für Donatella Versace ist das an diesem Abend gewiss kein Debüt. Das gab sie für Versace schon kurz nach dem Tod ihres Bruders Gianni 1997. Seitdem hat sie Pat McGrath an ihrer Seite, die wichtigste Visagistin der Welt. So ist es auch an diesem Freitag im September. Um Pat McGrath zu treffen, ein paar Stunden vor der Versace-Schau, muss man zunächst einmal an der Versace-Security vorbei, die sich vor mehreren der alten Türme am Castello postiert hat.

Die Mutter des Make-ups: Pat McGrath mit Naomi Campbell und Donatella Versace 1998 in Paris
Die Mutter des Make-ups: Pat McGrath mit Naomi Campbell und Donatella Versace 1998 in ParisParis Match via Getty Images

Ein Mitarbeiter aus dem Team Pat McGrath führt zu einem Aufzug hoch auf die vierte Etage, es geht vorbei an der Requisite, einem Labyrinth aus schwarzen Vorhängen. Am Ende liegt eine Art Schönheitshalle. Auf der linken Seite arbeiten 50 Assistentinnen und Assistenten konzentriert am Make-up der Models, häufig zu zweit. Auf der rechten Seite passiert das gleiche mit den Haaren. Rechts ist Guido Palau federführend, ebenfalls ein alter Gefährte von Donatella Versace, links Pat McGrath.

Sie steht ganz hinten an einem Model, fast könnte man sie übersehen, denn wie ihr Team trägt sie ausschließlich schwarze Kleidung. Früher war das die Farbe der Wahl der Modeleute. Die Botschaft: Der Meister bleibt im Hintergrund, damit das Werk umso heller strahlt. Haare- und Make-up-Leute halten sich bis heute daran, Modeleute eher selten. Gleich wird Donatella Versace aus dem Aufzug steigen, in einem Anzug in Limettengelb.

Aber zunächst einmal schaut Pat McGrath ihren Assistentinnen über die Schulter, während sie Augenbrauen bürsten und aus kleinen Bechern mit dünnen Pinseln tiefroten, metallischen Lippenstift auftragen.

„Donatella wollte rebellische junge Leute.“

Bordeauxrot? Ist das jetzt angesagt? Darf man die einflussreichste Make-up-Artistin der vergangenen Jahrzehnte so etwas Banales überhaupt fragen? Pat McGrath korrigiert nach ihrem kleinen Rundgang an den Make-up-Tischen sogleich: Flesh 3, so die genaue Farbbezeichnung des Dramatique Mega Lip Pencils ihrer eigenen Marke Pat McGrath Labs, der heute Abend Karriere auf dem Versace-Runway machen soll. Dazu Sublime Perfection Blurring Under-Eye Powder und Fetish Eyes Mascara.

„Donatella wollte rebellische junge Leute. Und sie wollte diese Lippe“, sagt Pat McGrath. Warum genau? Ist das neu? Wie sah so ein Show-Make-up von Pat McGrath früher aus? „Moment, darling“, sagt McGrath, „wir machen doch noch ein richtiges Interview, oder? Per Zoom!“ Eine feste Umarmung, als wären es hier, im vierten Stock des Castellos, fünf Stunden und nicht fünf Minuten Smalltalk gewesen. „Goodbye!“

Eine Schauensaison verlangt ihr viel ab

Drei Monate vergehen. Dann, vier Tage vor Weihnachten, findet sich ein Termin zum Gespräch mit Pat McGrath. Sie ist von ihrer Unternehmenszentrale in der Nähe des Gramercy Park in Manhattan aus zugeschaltet. Allerdings hört man sie nur, ohne dass man sie sieht. Irgendetwas stimmt mit der Technik nicht. Um es positiv zu sagen: So ist ihre rauchige Stimme noch präsenter. Sie klingt nach einem Abend in einer Bar mit viel Whiskey und lauter Jazzmusik oder einfach nach viel Arbeit: „Am Ende einer Schauensaison verliere ich immer meine Stimme“, sagte sie einmal in einem Interview.

So geht das in Pat McGraths Leben seit Jahrzehnten, so wird es auch in der Saison für das Frühjahr 2025 in Mailand und Paris gewesen sein. Und so gesehen ist dieses Bordeauxrot bei Versace nur eine von vielen Farben. Am Tag nach der Schau ließ Pat McGrath ihre Mannschaft bei Bottega Veneta die Models im Nude-Look schminken und bei Dolce & Gabbana am selben Tag divenhaft, wieder mit Betonung der Lippen, aber auch der Augen mit langen, falschen Wimpern. In der Woche darauf, in Paris, bei Loewe, wieder ein Make-up, das kaum zu existieren scheint, bei Schiaparelli einen Look, den Pat McGrath als „Typ Alien“ beschreibt, die Haut wie eine spiegelnde Oberfläche.

Backstage: McGrath mit Ajus Samuel bei der Versace-Schau im September 2024
Backstage: McGrath mit Ajus Samuel bei der Versace-Schau im September 2024Pat McGrath Labs
Kaia Gerber, der Tochter von Cindy Crawford, hat sie für die Dezemberstrecke der amerikanischen „Vogue“ derweil eine Art übertriebenes Sixties-Make-up verpasst, in der Kampagne von Prada im gleichen Zeitraum großzügig blauen Lidschatten verteilt, nur um in der Kampagne von Fendi doch wieder den Nude-Look voranzutreiben. Ergibt das ein Muster? Gar einen Trend? Nein. Oder doch, denn Pat McGrath sagt: „Der Trend ist die Freiheit des eigenen Ausdrucks.“ Sie vergleicht es mit vergangenen Jahrzehnten, „da durften es dann entweder nur Nude-Töne sein oder die markante rote Lippe oder so gut wie kein Make-up. Heute geht alles, und das liebe ich.“

Es liegt auch daran, dass mittlerweile nicht allein Leute wie Pat McGrath die Vorgaben machen. Wie es mit einem Trend anfängt und wo er hinführt, wird zu einem gewissen Teil zufällig im Netz entschieden, über Tiktok und Instagram, über Musikerinnen und Musiker, die vielleicht zeitgleich ein Album zu verkaufen haben. Während die Achtzigerjahre zumindest in der Rückschau nicht von grellpinken Lippen und Wangen loskamen und noch Jahrzehnte später strenge Regeln über „tragbar“ und „untragbar“ herrschten, werden heute allein in einem Sommer die Stilrichtungen Brat (also die Göre) und Demure (also die Zurückhaltende) abgehandelt.

Der Trend bleibt niemals stehen

Pat McGrath, die Frau, die in den vergangenen vier Jahrzehnten in der Mode alles gesehen hat und im nächsten Jahr 60 wird, genießt es. Diesen freiheitlichen Ausdruck. Eine Art Sommer in der Mode, wenn alles möglich und machbar zu sein scheint. Welcher Jeans-Schnitt nun gerade modern ist? Alle. Schulterpolster oder keine Schulterpolster? Beides. Da muss man einen metallisch glänzenden dunkelroten Lippenstift gar nicht infrage stellen. Es ist ein Experiment. Und gerade deshalb gut so. „Die Leute“, sagt McGrath, „lieben einfach das Neue.“

Es ist in Zeiten, da zurecht Diskussionen über die negativen Auswirkungen von sozialen Medien vor allem auf junge Leute geführt werden, da mit Sorge auf den Kosmetikkonsum von Kindern geblickt wird, eine der schöneren Erkenntnisse dieser Tage. Sicher, die Gesprächspartnerin ist keine Soziologin oder Psychologin. Aber auch eine Visagistin kann die Welt erklären, vielleicht mit ein paar mehr „amazings“, „wonderfuls“ und „sooo goods“.

McGrath lässt sich mit Karen Elson und Amber Valletta 2017 in New York fotografieren.
McGrath lässt sich mit Karen Elson und Amber Valletta 2017 in New York fotografieren.Nina Westervelt/NYT/Laif

So hat Pat McGrath sich diese Welt zurechtgebaut. Oder genauer gesagt war es ihre Mutter, die der Tochter früh Schönheit näherbrachte. „Sie war eine Kraft der Natur, besessen von Mode, Schönheit und Glamour“, sagt Pat McGrath. Genau so könnte man auch Pat McGrath beschreiben. Aber die Tochter sagt auch: „Eigentlich hat sie mich zur Visagistin ausgebildet.“

Jean McGrath nahm diesen Lehrauftrag ernst: „Wenn wir uns zusammen einen alten Hollywood-Film anschauten, zum Beispiel ,Silk Stockings‘, dann sagte sie, schaut her, ihr habt diese Designer-Kollektion gesehen, sie ist von diesem Film inspiriert.“ Die Mutter konnte in einer Zeit, als es noch üblich war, Kleider selbst zu nähen, Ewigkeiten nach dem passenden Schnittmuster aus der „Vogue“ suchen, erzählt Pat McGrath. Und die Mutter nahm ihre drei Kinder, zwei Mädchen und einen Jungen, dann mit auf die Recherche auf die Märkte: „Wir suchten die passenden Stoffe und die passenden Farben auf den Stoffen“, sagt McGrath.

Ein Ausflug in die Phantasie

„Nicht alles ist einem einfach so gegeben.“ Auch das werden Pat und ihre Geschwister von der alleinerziehenden Mutter gelernt haben. Über den Vater spricht sie nicht. „Für meine Mutter waren Mode und Schönheit eine Form des Eskapismus.“ Von was genau, möchte Pat McGrath nicht sagen, sie formuliert es lieber allgemein: „Lippenstift aufzutragen befördert immer unsere Phantasie.“

Die Mutter war vor Pat McGraths Geburt aus Jamaika ins Vereinigte Königreich eingewandert und hatte sich in der Industriestadt Northampton niedergelassen, 100 Kilometer nördlich von London. Sie und ihre Kinder kannten sich in Kosmetikabteilungen gut aus, aber bei Pat muss die Freude an allem Schönen besonders verfangen haben. Sie wusste, was zum Sortiment gehörte – und vor allem was nicht. Produkte für dunkle Hautfarben etwa, die sie selbst hätten gebrauchen können. Es dauerte, bis die Kosmetikindustrie reagierte. Vielleicht würde die Palette heute noch wie selbstverständlich mit einem Dunkelbeige-„Karamell“ abschließen, wenn es Pat McGrath nicht gäbe.

Sie rührte sich ihre Produkte selbst an, Feuchtigkeitscreme zum Beispiel: „Ich habe Mandelöl und Wasser vermischt, es in den Kühlschrank gestellt und beobachtet, wie daraus Creme wurde“, erzählt sie. Der Creme mischte sie Kakaopulver bei, weil es sonst nichts gab für dunkle Hautfarben. Oder dunkelbraunen Lidschatten. So brachte ihre Mutter es ihr in den Siebzigerjahren bei. Freunde konnte sie dafür eher nicht begeistern. „Ich war damit meistens allein, habe das am Wochenende und abends gemacht“, sagt sie, „ein bisschen wie die von Schönheit besessenen Kinder heute.“ Aber dazu später.

„Ich war besessen von den Blitz Kids und den New Romantics“

Denn zunächst machte Pat McGrath ihr Hobby zum Beruf. Nach der Schule belegte sie am Northampton College einen Vorbereitungskurs für ein Kunststudium, hielt sich aber schon damals am liebsten in London auf. „Ich war feiern, besessen von den Blitz Kids und den New Romantics“, sagt sie und meint damit die Subkulturen junger Menschen in den frühen Achtzigerjahren in London. Deren Make-up und Mode waren so phantastisch bunt, wie Jean McGrath es der Tochter vermutlich in einer Lehrstunde in Sachen Stil zu Hause in Northampton vermittelt hatte. „In London war die Szene, und so schnell ich konnte, bin ich selbst dorthin gezogen“, sagt Pat McGrath.

Ausgerechnet einer Radiomoderatorin, die für ihre Auftritte kaum Make-up braucht, fielen die junge Pat McGrath und ihr buntes Make-up irgendwann auf. Die Moderatorin buchte sie spontan: „Machst du das einmal bei mir?“ Erst da erkannte Pat McGrath einen Job in ihrer Leidenschaft. So wurde sie zur Visagistin. Über Freunde lernte sie später die Soulsängerin Caron Wheeler kennen, Leadsängerin der damals angesagten Band Soul II Soul, und brach mit ihr zur Tournee nach Japan auf. Dort liefen nicht allein New Romantics herum. „Da konnte man jedes Genre sehen“, sagt Pat McGrath. Ein bisschen wie heute, da jeder Stil Berechtigung hat. Nur natürlich viel einfallsreicher.

Ein Bewusstsein für Models und deren Wohlbefinden

In London brach Pat McGrath dann in den folgenden Jahren mit den Stilregeln der westlichen Welt, den No-Gos und Must-haves. Sie färbte Augenbrauen für Modeshoots gelb, wenn andere sie in den Neunzigern ungeschminkt gelassen hätten. Und sie hatte nicht nur einen Blick für Farbe, sondern auch für Ungerechtigkeiten. In einem Porträt in einem britischen Magazin stand Anfang der Nullerjahre, als McGrath längst zur Backstage-Make-up-Ikone bei Modenschauen geworden war, über sie, dass sie diejenige sei, die Eltern anrufe, wenn ihr auffalle, dass es einem Model nicht gut gehe.

Das war die Zeit, als die Requisite bei Modenschauen keinem Vorhang-Labyrinth glich, als Bodyshaming noch kein Begriff war, sondern bei Betroffenen nur ein schlimmes Gefühl hinterließ. Pat McGrath beschwichtigt, auch damals seien viele Models in Begleitung ihrer Eltern gekommen. „Aber wenn jemand ein Problem hat, dann helfe ich gerne.“ So erarbeitete sie sich ihren Kosenamen: Mother. Und ja, die Zeiten hätten sich verändert, „Schönheit bedeutet für mich alle Geschlechter, alle Hautfarben, alle Körperformen. Es ist gut zu sehen, dass die Dinge besser werden.“ Es ist auch ein schönes Gegenbeispiel, wenn wieder einmal, zurecht, die Rede davon ist, dass sich die Welt zum Schlechteren verändert.

Die Frau, die spätestens seit den Neunzigern permanent auf dem Höhepunkt ihres Schaffens war, begann dann 2015 noch einmal mit etwas Neuem – mit ihrer eigenen Beautylinie Pat McGrath Labs. Die Haltung in der Branche veränderte sich damals gerade, „darker skin tones“ waren auf einmal ein Zukunftsmarkt, und Pat McGrath, die sich schon als Kind ihre eigenen Produkte angerührt hatte, mischte mit. „Man musste damals Leonardo da Vinci sein, um mit dem, was da war, ein vernünftiges Ergebnis zu erzielen. Die Produkte waren nicht gut genug.“ Daher eigene – direkt von der Meisterin des Make-ups.

McGrath startet mit ihrer eigenen Marke durch

Pat McGrath hat schon zu diesem Zeitpunkt ausgezeichnet verdient, indem sie mit Giorgio Armani, Dolce & Gabbana, Gucci, Covergirl und Max Factor Make-up-Linien auf den Markt gebracht hatte. Indem sie bei gut 80 Schauen im Jahr mit ihrem Team schminkte. Aber mit dem Ende des Jahrzehnts und einem Investoreneinstieg knackte ihr Unternehmen Pat McGrath Labs die Eine-Milliarde-Dollar-Bewertung und ließ damit auch Kylie Jenner mit Kylie Cosmetics hinter sich.

Vielleicht liegt es daran, dass sie in der Beauty nicht zunächst ein Geschäftsmodell sieht, sondern die Begeisterung verspürt, die ihr die Mutter in Northampton vermittelte. Wenn Pat McGrath beschreibt, was sie fühlt, wenn sie eine Filiale von Sephora oder Douglas betritt, dann klingt das ungefähr so wie die Jugendlichen auf Tiktok über Schönheit sprechen: „Oh mein Gott! Ich schaue mir alles an, teste alle Produkte auf Farbe und Textur, rede mit den Leuten hinter dem Counter.“

Parfümerien und sie, das sei selbst heute, für die Frau, die ihre eigene Linie und sicher die Produktpaletten zig weiterer anderer Marken griffbereit hat, eine gefährliche Kombination. „Ich habe einfach zu viel Spaß. Vergangene Woche, da habe ich wieder einmal eingekauft: Parfum, eine Kerze, falsche Wimpern.“

Was würde sie also den Sephora Kids von heute zurufen? Die immer jünger und immer geschminkter sind? „Viel Spaß!“, sagt Pat McGrath und lacht. „Da wächst gerade eine neue Generation an Visagisten und Produktentwicklern heran, so viel wie die wissen.“ Und: „Als ich sechs Jahre alt war, hat meine Mutter mir erlaubt, mit ihrem Make-up zu spielen.“ Geschadet hat es dem Mädchen aus Northampton kaum. „Ich habe ihren Lippenstift als Rouge verwendet und ihren Lidschatten als Lippenstift. Das war mein erstes All-in-one-Produkt.“

Unter Pat McGrath Labs laufen Dutzende solcher Stifte. Und was würde sie den Eltern der Sephora Kids raten? „Es stimmt schon, es gibt Grenzen. Wenn ich ein Kind richtig aufwendig geschminkt sehe, sage ich, sorry, aber wir halten das jetzt erst einmal simpel.“ Da spricht dann die Backstage-Mutter. „Ansonsten sage ich aber: Lasst euch von euren Kindern mit eurem Make-up helfen! Sie wissen, was sie tun.“

So gelassen geht es auch in den Septemberabend zur Versace-Schau in Mailand. Keine dunkle Regenwolke am Himmel. Die Models laufen in knielangen Partyröcken, buntem Strick und Lippen, auf denen Flesh 3 rot-metallisch glänzt, durch den Innenhof des Castellos. Es ist fast noch Sommer.