Erstmals stehen in Deutschland Geldautomaten-Sprenger wegen Verdachts auf versuchten Mord vor Gericht. Die marokkanischstämmigen Angeklagten aus den Niederlanden sollen in einer Fußgängerzone ohne Rücksicht auf Passanten zugeschlagen haben. Dann sollen sie mit 150 km/h durch eine 50er-Zone gerast sein.
Ein Hochsicherheitssaal mit verglasten Scheiben, viele Justizbeamte an den Seiten. Die Angeklagten sitzen zwischen ihren Verteidigern aufgereiht, junge Männer in Winterjacken, die schwarzen Haare zurückgegelt, einige tragen Pferdeschwänze. Manche der Männer stammen aus Amsterdam, andere aus der Stadt Utrecht, einer der Hochburgen der Geldautomaten-Sprenger.
Hier trainieren die Banden ihre Fähigkeiten an ausrangierten Geldautomaten und planen ihre Diebestouren, das wissen die Fahnder aus deutsch-niederländischen Ermittlungen. Das Netzwerk der Automaten-Sprenger umfasst mehrere Hundert Mitglieder, viele der Täter haben marokkanische Wurzeln.
Das gilt auch für die sechs Männer, die hier in Saal 1 im Frankfurter Landgericht sitzen. „Die Angeklagten sind hochprofessionelle Mitglieder der Geldautomaten-Sprengerszene, die eine Säule der niederländischen Organisierten Kriminalität darstellt“, sagt Moriz Leo Musinowski, als er die Anklage verliest. Er ist der Experte der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt für Automaten-Sprengungen, hat viele der Gruppen angeklagt.
Doch dieses Verfahren ist auch für ihn ein besonderes: Erstmals werden hier Geldautomaten-Sprengungen als versuchter Mord angeklagt, Strafmaß: drei bis 15 Jahre Gefängnis. Es geht um eine Serie an Taten in Hessen ab dem Sommer 2022. Die Sprengungen hinterließen eine Spur der Verwüstung – und gefährdeten viele Menschen.
Was bei einer unkontrollierten Sprengung mitten in einem Wohngebiet passieren kann, zeigte die Hausexplosion im niederländischen Den Haag vor knapp einer Woche. Durch zwei Sprengungen im Erdgeschoss stürzte ein dreistöckiges Mehrfamilienhaus ein, sechs Menschen starben unter den Trümmern. Ziel des Anschlags war kein Automat, sondern wohl ein Geschäft für Brautmode. Die Spur führt in die organisierte niederländische Kriminalität, im Land häufen sich Sprengstoffanschläge auch auf Wohnhäuser und Geschäfte.
Der Fall zeigt: Trifft eine Sprengung etwa eine Gasleitung, befinden sich zufällig explosive Stoffe in einem Haus oder geht etwas anderes schrecklich schief, dann sterben Menschen. Erfahrene Ermittler und Fahnder in Deutschland sagen schon seit Jahren: Der erste Tote hierzulande ist nur eine Frage der Zeit.
Ohne Rücksicht auf andere in der „Gefahrenzone“
Die an der Spreng-Serie in Hessen beteiligten Angeschuldigten sollen den möglichen Tod unbeteiligter Bürger hingenommen haben, so sieht es die Anklage. Da ist etwa der Anschlag in Bad Homburg am 6. Mai vergangenes Jahr. Beute: 165.000 Euro – Sachschaden: 315.000 Euro.
Die Bande war aus den Niederlanden mit einem extra beschafften, hochgetunten Audi S8 mit 600 PS angereist. Viele der schnellen Sportwagen sind geleast oder gestohlen; auf Verfolgungsfahrten beschleunigen die Fahrer schon mal auf mehr als 300 km/h, um die Polizei abzuhängen. Dabei können die Wagen zu rollenden Bomben werden: An Bord lagern oft überzählige Sprengstoffpakete oder Benzinkanister, denn für die Tankstelle bleibt den Sprengern keine Zeit.
Ihre Ziele wählen sie nach mehreren Kriterien aus: Liegt ein Automat in eher ländlicher Gegend, ist eine Autobahn nah und sind die Niederlande nicht weit, ist es wahrscheinlicher, dass hier bald ein Automat in die Luft fliegt. Deshalb trifft es vor allem die Bundesländer, die sich in Grenznähe befinden.
Der im Juni 2023 gesprengte Geldautomat lag in zentraler Lage in der Fußgängerzone von Bad Homburg, ein Busverkehrsknotenpunkt und ein Taxistreifen in unmittelbarer Nähe, dazu Wohnhäuser. Der Bereich vor der Bankfiliale werde an Wochenenden auch zur Nachtzeit von Anwohnern, Passanten oder Verkehrsteilnehmern frequentiert, heißt es in der Anklageschrift.
„Ohne Kontrolle, ob sich Menschen in der Gefahrenzone befinden, zündeten die Angeklagten die Sprengsätze“, sagt der Staatsanwalt. „Sie nahmen den Tod einer unbestimmten Anzahl an Menschen billigend in Kauf.“
Bei ihrer Flucht rasten die Männer ohne Rücksicht auf Verluste, beschleunigten etwa auf 150 Stundenkilometer in einer 50er-Zone. Sie durchbrachen eine Straßensperre, in dem sie um ein Polizeifahrzeug herumfuhren. Über einen von der Polizei ausgelegten „Stop-Stick“, der ihre Reifen durchlöcherte, rasten sie mit 180 Stundenkilometern. Als die Räder Luft verloren, ließen sie das Fahrzeug stehen, flüchteten zu Fuß und wurden festgenommen.
Trotz vieler Festnahmen und etwas sinkender Zahlen: Deutschland ist für die Automatensprenger weiter ein lohnendes Ziel. In kaum einem Land in Europa ist Bargeld noch immer so beliebt wie hier. Deshalb stehen 55.000 Geldautomaten im öffentlichen Raum – und jeden Tag fliegt statistisch gesehen mindestens einer irgendwo in der Republik in die Luft. Für das zurückliegende Jahr nennt das Bundeskriminalamt noch keine Zahlen, im Jahr 2023 waren es 461 versuchte oder erfolgreiche Sprengungen.
„Sie sind alle auf mindestens einer frischen Tat ertappt worden. Ein Geständnis dürfte sich auf die Strafe auswirken“, appelliert der Vorsitzende Richter Jörn Immerschmitt im Frankfurter Verfahren an die Angeklagten. „Einer von ihnen hat gesagt: ‚Ich bin nach Homburg gekommen, um zu joggen.‘ Das muss man jetzt nicht glauben.“ Bisher ist unklar, inwieweit sich die Männer im Alter zwischen 26 und 32 Jahren zur Sache einlassen werden.
Der Mordanklage war ein juristisches Tauziehen vorausgegangen. Zunächst hatte es das Landgericht abgelehnt, eine Anklage wegen versuchten Mordes zu eröffnen. Auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft hatte das Oberlandesgericht Frankfurt am Main anders entschieden – und das Hauptverfahren vor der Schwurgerichtskammer eröffnet. Das Gericht teilte die Auffassung, dass „hinreichender Tatverdacht auch wegen versuchten Mordes in zwei Fällen“ bestehe.
Das aufwendige Verfahren ist bis Ende Juni 2025 terminiert. Falls es zu einer Verurteilung wegen versuchten Mordes kommt, könnte am Ende ein bundesweites Signal für Fälle von Automaten-Sprengungen stehen.
Korrespondent Philipp Woldin kümmert sich bei WELT vor allem um Themen der inneren Sicherheit und berichtet aus den Gerichtssälen der Republik.