Literaturpreis 2023: Im Schutzraum der Literaturimmanenz

Der erste und bisher einzige Roman, Eine Nebensache, von
Adania Shibli ist im Original zwar schon vor sieben und auf Deutsch vor zwei
Jahren erschienen. Doch die Lesung und das anschließende Gespräch, das die
österreichische Autorin Eva Menasse mit der in Berlin lebenden Autorin am Mittwochabend in der Akademie der Künste führte, waren natürlich dennoch sehr
gut besucht. Es gab bisher noch nicht allzu viele Gelegenheiten, die in Israel
geborene palästinensische Autorin selbst zu erleben, nachdem die geplante
Verleihung eines Literaturpreises durch den Verein Litprom auf der Frankfurter
Buchmesse 2023 auf unbestimmte Zeit verschoben wurde
.

Damals, unmittelbar nach dem Überfall der Hamas auf Israel,
wurde über das Buch und die Absage der Frankfurter Buchmesse heftig gestritten.
Die meisten deutschen Kritiker und Kritikerinnen, allen voran die damalige
Sprecherin des PEN Berlin, Eva Menasse, verteidigten die hohe literarische
Qualität des Romandebüts. Andere – später von der Autorin erfolglos verklagte –
Literaturkritiker waren der Meinung, dass die im Roman auftretenden Israelis ausschließlich
als anonyme Vergewaltiger und Killer dargestellt würden, während die
Palästinenser ausschließlich Opfer seien. Der Autor Maxim Biller meldete sich
mit der Einschätzung zu Wort, der Roman laufe auf ein „unliterarisches Stück
Propaganda“ hinaus. Befeuert wurde die Debatte durch Recherchen in der
arabischsprachigen Presse, in der Shibli vor Jahren bekannt gegeben hatte, dass
sie nicht bereit sei, an Kulturveranstaltungen teilzunehmen, die Israel als
„normalen Staat“ behandelten, da ihr eine solche Teilnahme „Übelkeit“ bereite.
Eine Haltung, die sie auch mit einer Unterschrift beim Israel-Boykott-Verband
BDS bekräftigte.

Adania Shibli (links) spricht mit Eva Menasse über ihre elf Geschwister, den ungeliebten Schwimmunterricht ihres Sohnes und die Schwierigkeiten ihres ungewöhnlich langsamen Schreibens. © gezett/​Akademie der Künste

Über all diese Fragen hätte man damals mit der seit vielen
Jahren in der deutschen Hauptstadt lebenden Autorin gerne gesprochen. Doch sie
verweigerte alle Interviews, ein Exklusivgespräch mit der ZEIT konnte nur unter
der Bedingung schriftlich geführt werden, dass keine außerliterarischen Fragen
gestellt werden – und wurde am Ende zurückgezogen, weil nicht einmal diese
Vorbedingung transparent gemacht werden durfte. Später sind große Teile dieses
nicht gedruckten Interviews in einen Text der Autorin für die Berlin Review
eingeflossen
.

Schreibwerkstatt statt Nachbetrachtung

Ob es für das Gespräch in der Akademie der
Künste ebenfalls die Vorbedingung gegeben hat, im Schutzraum der
Literaturimmanenz zu bleiben, ist nicht bekannt. Jedenfalls dürften alle
enttäuscht sein, die Shibli nun endlich jenseits von gerichtlichen
Auseinandersetzungen zu der Debatte hören wollten. Gespannt war man gerade in
diesen Tagen auf einen literaturpolitischen Austausch zwischen der propalästinensischen
Autorin und der Mitbegründerin des PEN Berlin. Denn der hat sich am vergangenen
Wochenende wegen einer Resolution zu Israel und Gaza derartig furios
verstritten
, als lebten wir wieder in den Zeiten der legendären Briefschlachten
zwischen Jean-Paul Sartre und Albert Camus. Ein Ereignis, das man nebenbei
gesagt nicht zwingend als nutzlos, wichtigtuerisch und eitel weglächeln muss, sondern
ebenso gut lebendig, anregend und engagiert finden kann.

Statt der erhofften Nachbetrachtung der heftigen Debatte bot
das Akademiegespräch dann aber einen interessanten Parcours durch die
Schreibwerkstatt einer ganz und gar nicht schüchternen, vielmehr sprudelnd und
in fließendem Englisch über ihre elf Geschwister, den ungeliebten
Schwimmunterricht ihres Sohnes und die Schwierigkeiten ihres ungewöhnlich
langsamen Schreibens ausführlich Auskunft gebenden Autorin. Zwölf Jahre,
berichtete Shibli, habe sie an ihrem schmalen Erstling geschrieben, der es ihr
schließlich nach harter Arbeit (allein fünf Jahre für das erste Kapitel!) ermöglicht
habe, das Schlimmste in eine andere Möglichkeit zu verwandeln.

Postmoderne Floskeln

Diese Eigeninterpretation des Romans erschien zunächst ein
wenig phrasenhaft. Auch schienen die ständig ins Werkstattgespräch der beiden Autorinnen
eingestreuten Chiffren und postmodernen Modebegriffe wie die Abwesenheit des Selbst im Text, der zum „Begleiter der Nichtpräsenz“ werde und anti-narrative Formen enthalten müsse, eine späte Wiederauflage der French Theory zu sein, nach
der ein literarischer Text keiner Hierarchie, keiner Absicht, keinem Autorwillen
folgen darf, sondern einzig seiner literarischen Eigengesetzlichkeit. Doch erweiterte
Adania Shibli solche aus dem französischen Poststrukturalismus entliehenen
Floskeln im Berliner Gespräch bald zu einer politischen Ästhetik des palästinensischen
Opfers. Und hier, in der seltsamen Fusion von postmoderner Literaturtheorie und
Politik, wurde es dann doch spannend.

Palästina, sagte Adania Shibli, sei ihr „literarischer Lehrer“. Da man dort weder einen Ort
noch eine Sprache habe, entstehe aus der Unfähigkeit, sich zu artikulieren, eine
neue anti-narrative Literatur der Sprachlosen. Das Stottern, das Nicht-fließend-und-flüssig-sprechen-Können präge diese neue Literatur, die eine Literatur
voller Abgründe und Schweigen sei. Sie
wundere sich über alle, die noch fließend und ohne zu stottern sprechen
könnten. Ein literarischer Charakter, der über Dutzende von Seiten hinweg souverän
spreche, sei ihr unvorstellbar. Es sei das Leid der Palästinenser, das die anti-narrativen literarischen Formen hervorbringe. Denn sie seien aus der
Geschichte verstoßen. Ihre zerbrochene Existenz unter der israelischen
Besatzung erzwinge neue Erzählweisen. Deswegen rede sie immer auch über
Politik, wenn sie über Literatur rede. Literatur gebe jenen einen Platz, die
keinen Platz in der Geschichte hätten. Was die Autorin beim Schreiben vor allem
interessiere, sei die Frage, was passiere, wenn man den Schritten des Opfers
folge.

So wurde der scheinbar ganz im Sicherheitsbereich der
literarischen Erzähltheorie angesiedelte Abend doch hochpolitisch. Warum Opfer
und Täter darin so eindeutig festgelegte Rollen haben, wurde dann nicht mehr diskutiert.
Das wäre ja eine allzu außerliterarische Frage gewesen.

Anmerkung der Redaktion: Adania Shibli hat als freie Autorin vor Jahren einige Texte für die Kolumne „10 nach 8“ bei ZEIT ONLINE verfasst, den letzten im Jahr 2017.