Frische Mangos, Maracujas und Papayas, säuberlich aufeinandergestapelt, daneben Säcke voller Kartoffeln in allen Farben und Formen, dazwischen leuchtend grüne und gelb-spitzige Früchte, die wir noch nie gesehen haben. Wir sind auf dem Mercado Iñaquito, einem der ältesten Märkte Quitos. „Hier, ihr müsst zuerst daran riechen“, sagt unser Führer und reicht eine reife Kakaofrucht mit dunkelroter Schale herum, die innen ganz pelzig aussieht.
Unser Führer heißt Alejandro Chamorro, er ist Chefkoch im „Nuema“ in Quito. Mit seiner Frau Pía Salazar hat er das Restaurant zum besten Ecuadors gemacht – und zum ersten Restaurant des Landes, das es auf die Liste der „World’s 50 Best“ geschafft hat. Pía Salazar war zudem auch „World’s Best Pastry Chef 2023“. Mit ihrem Erfolg haben sie Ecuador erstmals auf die kulinarische Landkarte gesetzt.
Chamorro kauft die frischen Zutaten für seine Menüs oft auf dem Markt ein.
An diesem Morgen möchte uns Chamorro, in schwarzem T-Shirt und Jeans, auf dem Markt die Zutaten zeigen, die er mittags für sein Menü verwenden wird. Eine Marktfrau öffnet einige Früchte, man kennt sich, Chamorro kauft hier oft für sein Restaurant ein. „Ecuador ist eines der artenreichsten Länder der Welt“, erzählt er begeistert. Und lässt uns Früchte wie Lulo und Cherimoya probieren, eine saftiger und süßer als die andere.
Ecuador: Das sind die Galapagosinseln, die Anden – aber Fine Dining? „Wir verstehen uns als Botschafter für die Gastronomie des Landes und wollen die gesamte biologische Vielfalt auf den Teller bringen“, sagt Chamorro über das Konzept von „Nuema“. So wie auch andere südamerikanische Spitzenrestaurants dazu beigetragen haben, die Küchen ihres Landes bekannt zu machen, etwa das „D.O.M.“ in Brasilien, das „Boragó“ in Chile oder das „Central“ in Peru.
„Wir verstehen uns als Botschafter für die Gastronomie des Landes und wollen die gesamte biologische Vielfalt auf den Teller bringen.“
ALEJANDRO CHAMORRO
Das „Nuema“ ist in einem mehrstöckigen Wohnhaus aus den Sechzigern untergebracht. Die schlichte Architektur und die minimalistische, aber warme Einrichtung geben einen ersten Eindruck von dem, was uns erwartet. Chamorro, jetzt im weißen Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, und Salazar empfangen uns im Partnerlook. Das „N“ auf ihren dunkelblauen Schürzen steht für den Namen des Restaurants, der sich aus den Vornamen ihrer drei Kinder zusammensetzt – Nuria, Emilio und Martín.
Die beiden lernten sich in der Küche des wegweisenden peruanischen Restaurants „Astrid & Gastón“ in Lima kennen, als die kulinarische Revolution in Peru stattfand – eine Inspiration für ihr eigenes Vorhaben. Chamorro hat unter anderem im „Noma“ in Kopenhagen gelernt. Er ist für die herzhaften Gerichte zuständig, sie für die Desserts. „Wir sind ein Team“, sagt er. „Ich koche zwar den herzhaften Teil, aber Pía ist der letzte Filter. Wenn es ihr schmeckt, ist es gut. Bei den Desserts trage ich aber nur zur Ästhetik bei.“
Stolz auf das Land: Das Restaurant „Nuema“ will die verschiedenen Welten Ecuadors repräsentieren.
In der offenen Küche sind viele unbekannte Zutaten im Rohzustand ausgestellt. Über die Artenvielfalt sagt Chamorro: „In Ecuador haben wir vier verschiedene Welten. Die Galapagosinseln sind eine Welt für sich, von wo aus wir die Schönheit der Meeresprodukte zeigen. An der Pazifikküste ist die Wassertemperatur höher, dort haben wir noch einmal eine andere Meeresvielfalt, sowie indigene Kulturen, deren beeindruckenden Kochtechniken wir Tribut zollen wollen. In den Anden gibt es ganz spezifische Produkte, und die Realität der Menschen ist eine völlig andere, sodass sie viel fermentieren. Und im Amazonasgebiet finden wir völlig neue Geschmacksrichtungen und Zutaten, die es nirgendwo anders gibt.“
„Wir respektieren die traditionelle Landesküche und legen uns nicht mit ihr an.“
ALEJANDRO CHAMORRO
Das alles präsentiert das „Nuema“ in einem 13-Gänge-Tasting-Menü, begleitet von einer Auswahl an Naturweinen aus Südamerika und Europa oder nichtalkoholischen Getränken wie Kombucha. Dabei wird aber nicht nur die traditionelle ecuadorianische Küche „modernisiert“. „Wir übernehmen Ideen daraus, aber wir respektieren die traditionelle Landesküche und legen uns nicht mit ihr an“, sagt Chamorro. Stattdessen sollen neue oder vergessene Zutaten im Mittelpunkt stehen, moderne Techniken mit den Produkten Ecuadors kombiniert werden.
Was auf der Speisekarte schlicht als „Thunfisch/Erdnuss“ angekündigt wird, ist ein geräuchertes Ceviche mit Thunfisch aus dem Pazifik in Erdnussemulsion, verfeinert mit einem Hauch roter Pflaumen und auf Steinen aus den Anden gebettet serviert. „Das Öl stellen wir aus den Knochen des Thunfischs und einigen Algen und Gewürzen her“, erläutert Chamorro am Tisch. Ceviche ist in Ecuador beliebt, auch Erdnüsse sind ein häufiger Bestandteil der Küche. Hier verschmelzen sie auf überraschende Weise zu einer köstlichen Kombination.
In der Küche bereiten Chamorro und sein Team die nächste Vorspeise vor: Steinkrabbe mit schwarzer Mashua, einer Knolle aus den Anden, geschickt als Cracker arrangiert. Der Service bringt auch jeweils die entsprechende Rohzutat mit an den Tisch.
Vom klassischen Maniokbrot, modern interpretiert, bis zum Dessert aus Seealgen von den Galapagosinseln: Das „Nuema“ von Pía Salazar und Alejandro Chamorro ist eine Hommage an Ecuador.
Selbst in einem modernen Menü von „Nuema“ darf der Brotgang nicht fehlen. Das klassische ecuadorianische Pan de Yuca, auch Cassavabrot genannt, kommt in Tüchern eingewickelt und in einem handgefertigten Weidenkorb aus den Anden mit Deckel an den Tisch, um die Bällchen länger warmzuhalten. Das Maniokbrot wird mit einem handgemachten Käse aus der Provinz Manabí hergestellt. „Das ist ein sehr zäher Käse, den wir mit fermentiertem Maniok mischen. Dazu gibt es eine Butter aus Sal Prieta, eine Würzpaste von der Küste, die aus Erdnüssen, etwas Koriander und verschiedenen Gewürzen besteht.“ Beim Bestreichen schmilzt die Butter.
Die Handschrift ist klar: Auf den minimalistischen Tellern wird jedes einzelne Produkt präsentiert – und trotzdem steht der Genuss im Vordergrund. Chamorro scheint einen Countdown herunterzuzählen: „Noch zwei Gänge, dann beginnt der beste Teil“ – die Dessertkreationen seiner Frau. Die beiden arbeiten oft Rücken an Rücken in der offenen Küche.
Einer der nächsten Gänge ist der Fang des Tages: Huayaipé, ein Fisch, mit einer Lulosauce und einem Chiacracker. Bei Chia atmen die Gäste auf. Immerhin eine Zutat, die uns Europäern bekannt ist. Welche Herausforderungen gibt es bei der Arbeit mit rein ecuadorianischen Zutaten? „Eine ganze Menge“, sagt Chamorro und lächelt. Früher reisten sie selbst durchs ganze Land, mittlerweile können sie sich auf ihre Lieferanten verlassen. Dennoch sei es wichtig, Bauern und Fischer mit einzubeziehen. „Wir als Köche überbringen nur die Botschaft“, sagt er. „Es sind die Menschen auf dem Land, die die einheimischen Produkte mit Leidenschaft anbauen.“
Die beiden Köche arbeiten oft Rücken an Rücken in der offenen Küche.
Er wünschte, die Produzenten würden sich mehr auf die Einzigartigkeit der lokalen Produkte fokussieren. Es sei wichtig, eine nachhaltige Landwirtschaft zu entwickeln und nicht nur Dinge anzubauen, die es auch in Europa oder Asien gibt. Es erfordere Wertschätzung und Zeit, bis die Menschen verstehen, wie wichtig ihr Beitrag sei. Mittlerweile seien viele stolz darauf, denn all die Auszeichnungen hätten sich für Ecuador gelohnt.
Zeit für „Nuemas“ Signature Dish: Chamorro reicht ein Holzschälchen mit einer schwarzen Paste herum. Wieder sollen alle daran riechen. „Das ist Neapia, eine fermentierte Paste aus Maniok mit Chili aus dem Amazonas. Ähnlich wie Miso, das ist der neue Luxus.“ Er ist jetzt ganz in seinem Element. „In den lateinamerikanischen Ländern gibt es vielleicht keinen Kaviar und keine Gänseleber, aber wir haben viel Neues zu entdecken und wollen der Welt zeigen, dass das Konzept dieses neuen Luxus Sinn ergibt.“
Als das Restaurant vor zehn Jahren öffnete, waren manche Gäste irritiert, wenn sie etwa nach Lachs fragten und keinen bekamen. Sie sollten vielmehr auf ihr Land stolz sein. Deshalb gibt es statt Lachs Lama und statt Kaviar weißen Kakao.
Dieses Konzept bringt das nur als „Blumenkohlgericht“ bezeichnete Spezialgericht des Restaurants auf den Punkt. Jede Familie im Amazonasgebiet habe ihr eigenes Neapiarezept. „Das hängt davon ab, was sie auf ihrem eigenen Land haben. Wenn es mehr Chilischoten gibt, wird ihre Neapia schärfer sein“, sagt Chamorro. „Im Dschungel von Ecuador wurden die ältesten Spuren von Kakao auf der Welt gefunden. Kakao ist nicht nur Schokolade, sondern auch eine Frucht. Wir verwenden fermentierte Kakaostücke und fügen etwas Zucker hinzu, um das Ganze abzurunden. Dazu wollten wir ein Produkt nehmen, das es überall auf der Welt gibt: Blumenkohl. Den grillen wir und kombinieren ihn mit diesen beiden Zutaten.“ Was so unscheinbar auf dem Teller daherkommt, ist unerwartet großartig.
Pía Salazar übernimmt das Anrichten.
Dann übernimmt Pía Salazar das Anrichten in der offenen Küche. Erst gibt es ein Dessert mit Cherimoya, der Frucht vom Morgen, das Salazar am Tisch auf Spanisch erklärt, während ihr Mann übersetzt. „Hier haben wir Cherimoya als Schaum mit zwei verschiedenen Eissorten, eine mit Meringue und ein Mandarinensorbet. Darunter karamellisierte Vanillestreusel und kandierte Kürbiskerne.“ Es ist nicht zu süß und das Gegenteil von dem, was man erwarten würde. Typisch „Nuema“. Das nächste Dessert ist genauso beeindruckend: „Die Gelatine, das Gelee und das Öl sind alle aus Kamille. Die Mousse besteht aus grünen Erbsen, darin sind ein Moringaeis und ein wenig grüner Apfel und Honig.“
Pía Salazar ist nicht nur die erste Frau aus Ecuador, sondern auch die erste Lateinamerikanerin, die als „World’s Best Pastry Chef“ ausgezeichnet wurde. Wie schafft sie es, all die unterschiedlichen Geschmacksrichtungen zu etwas so Köstlichem zu kombinieren?
Keine andere Kreation verkörpert Salazars Stil so sehr wie ihr Signature Dish: Seealge, schwarzer Knoblauch und Hefe. „Die Idee war, mit der Textur von Seealgen von den Galapagosinseln zu spielen“, sagt sie. „Zuerst kochen wir sie mit drei verschiedenen Zutaten der Kokosnuss, Fett, Wasser und Sahne, bei niedrigen Temperaturen und in verschiedenen Phasen, um die Textur einer unreifen Kokosnuss zu erhalten. Dann werden sie mit Hefe kombiniert, die wir getrocknet und kandiert haben, für ein kräftiges Umami. Dazu kommt ein schwarzer Knoblauchsabayon.“ Das Gericht ist auch eine Hommage an ihren verstorbenen Vater und seine verschiedenen Temperamente. Drei ungewöhnliche Geschmacksrichtungen, die ungewöhnlich gut zusammenpassen.
Salazar schafft es, all die unterschiedlichen Geschmacksrichtungen zu etwas Köstlichem zu kombinieren.
„Ich habe nicht meine ganze Karriere als Patissière gearbeitet“, erzählt Salazar. „Begonnen habe ich als Köchin. Deshalb habe ich Obst und Gemüse von Anfang an wie Proteine behandelt. Zutaten wie Getreide, Kräuter und Gewürze tragen alle zu einem Gericht bei. Ich habe mein Team ermutigt, herzhafte Desserts zuzubereiten, ohne die Süße zu vernachlässigen. Das ist der Grundgedanke. Die Grenze existiert nur in unseren Köpfen, wenn wir denken, dass nur Süßes für Desserts geeignet ist. Aber das stimmt nicht! Alle Geschmacksrichtungen müssen ausgewogen sein, auch der Umami-Geschmack.“
Wieder waren einige Gäste skeptisch, aber Salazar ging ihren Weg. „Ohne Pía gäbe es ‚Nuema‘ nicht“, sagt ihr Mann. „Sie war die treibende Kraft, sie hat schon immer erreicht, was sie sich vorgenommen hat. Sie weiß, was funktioniert.“ Die Auszeichnung hat ihr Recht gegeben. „Sie zeigt, dass Frauen in der lateinamerikanischen Gastronomieszene Anerkennung verdienen. Der Weg für Köchinnen in Lateinamerika ist oft steinig, aber in vielen großen Restaurants arbeiten starke Frauen.“ Für Salazar ist die Auszeichnung mehr als nur ein persönlicher Erfolg; sie ist ein Appell für mehr Gleichberechtigung in der Gastronomie. „Mein Ziel ist es, der Welt zu zeigen, dass die Branche mehr für die Chancengleichheit von Frauen tun muss.“
„Wir reden immer über Territorium und Biodiversität, aber am Ende geht es ums Essen.“
ALEJANDRO CHAMORRO
Das „Nuema“ hat noch viel vor. Eine eigene Konditorei namens „PIA“ etwa, die sich abends in ein Dessertrestaurant verwandelt. Ein Bistro namens „Stelma“, eine Hommage an Salazars Großmutter. Und ein eigenes Forschungslabor, um Informationen über ecuadorianische Zutaten zu sammeln und zu organisieren.
„Wir reden immer über Territorium und Biodiversität, aber am Ende geht es ums Essen“, sagt Chamorro. „Essen muss gut schmecken und die Menschen glücklich machen. Es darf sich nicht wie bei einer Prüfung anfühlen.“ Das ist „Nuema“ gelungen. Durch die Konzentration auf das Wesentliche wirkt kein Gang überladen, was den Zugang zu den unbekannten Zutaten erleichtert. Fürs Abschlussfoto stehen die beiden im Garten des Restaurants. Die riesige Pflanze hinter ihnen? Eine Lulo, die Frucht vom Markt am Morgen.