Deutsche Bewerbung für Olympische Spiele: Vergessen ist keine Option

Geschichtsvergessen. Das Wort hallt in mir nach.

Ich sitze im kleinen Kinosaal von Constantin-Film in München, neben mir die israelische Generalkonsulin für Süddeutschland, Talya Lador-Fresher. Im Mai/Juni 2024 war die Repräsentantin Israels an der Frankfurter Goethe-Universität auf Plakaten als „Genozidleugnerin“ und „Kriegskriminelle“ verunglimpft worden.

Ihre mit Studierenden des Fachbereichs Evangelische Theologie geplante Diskussion über den Nahost-Konflikt musste wegen Sicherheitsbedenken auf Anfang Juli verschoben werden, und konnte dann nur in kleinem Kreis ohne Öffentlichkeit stattfinden. Jetzt sehen wir im September 2024 gemeinsam eine exklusive Vorabpräsentation des Films „September 5. The Day Terror Went Live“, der an diesem Donnerstag in die deutschen Kinos kommt.

52 Jahre her und doch ganz aktuell

Die anwesenden Filmemacher Tim Fehlbaum und Moritz Binder schildern in ihrem Werk den Überfall palästinensischer Terroristen auf die israelische Mannschaft im Olympischen Dorf bei den Olympischen Sommerspielen in München 1972. Zwei Israelis wurden damals sofort getötet, neun blieben für rund 20 Stunden in den Händen der Terroristen, ein deutscher Polizeibeamter starb beim Einsatz.

Israelische Geiseln – 52 Jahre her und doch ganz aktuell. Aus der Perspektive des Sport-Teams des amerikanischen Senders ABC, das 1972 erstmals die Wettkämpfe der Olympischen Spiele live übertrug, entwickelt sich das Drama der Geiselnahme in eindrücklichen Szenen. Die kaum noch vorstellbaren technischen Bedingungen – es mussten Filmrollen transportiert werden, wo heute ein Klick ein Video in alle Welt sendet – und die Skrupel, wie weit eine Live-Übertragung gehen darf, schaffen eine dichte Atmosphäre.

Und dann fällt dieses Wort. Geschichtsvergessen – damit versucht die deutsche Dolmetscherin des ABC-Teams im Film einem amerikanischen Journalisten zu beschreiben, warum die Deutschen sich mit ihrer Vergangenheit oftmals schwertun. So lange ist die Nazi-Zeit noch nicht her, die Betonung der „heiteren Spiele“ ein Versuch, den Schuldgefühlen zu entkommen. Doch das misslingt auf tragische Weise.

Ein Originalinterview zeigt den Gewichtheber David Berger, für seinen Traum von der Olympiateilnahme aus den USA nach Israel zurückgekehrt, als Teil der israelischen Mannschaft beim Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau. Berger benennt, was war, und schwärmt zugleich von der olympischen Atmosphäre, wie freundlich die Deutschen sind, wie offen die Athleten aus der ganzen Welt.

Es wird wieder verdrängt, jahrzehntelang

Zwei Tage später ist er tot, ermordet bei dem dilettantischen Befreiungsversuch auf dem Fliegerhorst Fürstenfeldbruck. Elf ermordete israelische Olympiateilnehmer, jüdische Gäste, die dieses Land 27 Jahre nach dem Holocaust nicht geschützt hat. Auch danach wird wieder verdrängt, jahrzehntelang. Geschichtsvergessen. Es dauert 50 Jahre, bis Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Trauerfeier am 5. September 2022 in Fürstenfeldbruck zu den Angehörigen der Ermordeten sagt, was längst hätte gesagt werden müssen:

„Wir können nicht wiedergutmachen, was geschehen ist, auch nicht, was Sie an Abwehr, Ignoranz und Unrecht erfahren und erlitten haben. Das beschämt mich. Ich bitte Sie als Staatsoberhaupt dieses Landes und im Namen der Bundesrepublik Deutschland um Vergebung für den mangelnden Schutz der israelischen Athleten damals bei den Olympischen Spielen in München und für die mangelnde Aufklärung danach.“

Erst wenige Tage vor dieser Entschuldigung hatte sich die Bundesregierung mit den Angehörigen der Geiseln auf die Einsetzung einer internationalen Historikerkommission zur Aufarbeitung des Attentats und des anschließenden beschämenden Umgangs damit geeinigt.

Im Kinosaal sitzt Dr. Alfred Fliegerbauer drei Reihen hinter uns. Er war vier Jahre alt, als sein Vater Anton Fliegerbauer als Polizeibeamter in Fürstenfeldbruck 1972 erschossen wurde. Für ihn ist der Film eine Gelegenheit, dem kurzen Leben seines Vaters nachzuspüren.

Lahav Shapira, in Deutschland aufgewachsener Enkel des in Fürstenfeldbruck ermordeten Leichtathletiktrainers Amitzur Shapira, wird am 2. Februar 2024 von einem Kommilitonen an der Freien Universität Berlin schwer verletzt. Hintergrund soll eine Auseinandersetzung um den Nahostkonflikt gewesen sein, im September 2024 erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den mutmaßlichen Täter. Lahavs Bruder Shahak Shapira verarbeitet Traumata währenddessen als deutscher Comedian.

„11. September 1972, 20:02 Uhr“

Nichts ist vorbei, alles ist jetzt, mitten in Deutschland. Geschichtsvergessen ist keine Option.

Nur der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) hat dies nicht verstanden. Seine aktuelle Kampagne zur geplanten deutschen Olympiabewerbung läuft unter dem Titel „Stop the Clock“ und „Sportgeschichte(n) made by Germany“ in deutsch-englischem Kauderwelsch:

„11. September 1972, 20:02 Uhr. Das Olympische Feuer in München erlischt. Seitdem tickt die Uhr und wir warten auf Olympische und Paralympische Spiele in Deutschland. Seitdem haben wir eine Vielzahl an emotionalen Olympia-Momenten aus der Ferne mitverfolgt. Wir finden, es ist Zeit, die größten Sportmomente endlich wieder zuhause zu erleben. Für mehr emotionale Momente made in Germany.“

Die Kampagne beschwört deutsche Sportgeschichte und verfehlt sie doch in einem entscheidenden Punkt. Der DOSB verdrängt und knüpft am 11. September 1972 an, als hätte es den 5. September 1972 nie gegeben. Geschichtsvergessen.