„Dresse toi, seigneur“, singt die Gemeinde zum Spiel der 250 Jahre alten Orgel, „dans ta force“. Etwa fünfzig Menschen sind gekommen, in die Vesper der Kirche Saint-Germain-l’Auxerrois, die für die Gemeinde von Notre-Dame de Paris seit dem Großbrand vor fünf Jahren eine Art Ausweichquartier darstellt. Die Glocken der Kirche sollen einst die „Pariser Bluthochzeit“ eingeläutet haben, die Bartholomäusnacht. Heute geht es hier weit friedlicher zu. Zusammen singt man: „Steh auf, Herr, in deiner Stärke“, und es klingt schon wie die Ouvertüre zur Wiedereröffnung der weltberühmten Pariser Kathedrale nur wenige Hundert Meter weiter.
Der junge Organist, der die Messe in Saint-Germain-l’Auxerrois begleitet, wird bald auch an der großen Orgel von Notre-Dame de Paris zu hören sein: Thibault Fajoles, ein 22 Jahre alter Musikstudent, dessen Ernennung zum neuen stellvertretenden Cheforganisten von Notre-Dame einen großen Streit an der Seine ausgelöst hat.
Der talentierte Fajoles ist ganz anders als viele seiner Altersgenossen. Seine Musik ist eher die von Bach und Widor statt Linkin Park und Shirin David. Unter Daniel Harding spielte er im vergangenen Jahr Gustav Mahlers opulente achte Sinfonie mit dem Orchestre de Paris an der Orgel der Philharmonie, nicht schlecht für einen Studenten. Doch nun heißt es in einer Online-Petition, die sich mit seiner Benennung beschäftigt: Die Einstellung eines derart jungen Organisten, der noch nicht mal einen Abschluss vorzuweisen habe, sei „unverständlich“ und „willkürlich“. Viele, auch international angesehene Musiker haben bereits unterschrieben: vor allem Organisten großer französischer Kirchen in Dijon, Nantes, Toulouse, Chartres. Die Wahl des Rektors von Notre-Dame, so wird betont, sei „ein falsches Signal an junge professionelle Organisten“.
Fajoles, der zuletzt in einer Abteikirche östlich von Paris regelmäßig an der Orgel saß, ist die Aufmerksamkeit freilich unangenehm. Auf die ersten Mails antwortet der etwas schüchtern wirkende Mann mit den dunklen Augen noch recht offenherzig: „Es wäre mir eine Freude, mit Ihnen zu sprechen“, schreibt er und lädt den Reporter aus Deutschland in die Ausweich-Kirche nahe des Louvre ein. Er verspricht auch, auf alle Fragen zu antworten, nur nicht auf die, die sich mit dem Streit um seine Person befassen, was auch verständlich ist. Nach der Messe bleibt er verschwunden, keine Zeit, sagt er, und antwortet irgendwann auch digital nicht mehr.
Und, ja: Was kann er für die Personalentscheidung des 2022 ernannten neuen Notre-Dame-Rektors Olivier Ribadeau Dumas? In Kirchenmusikerkreisen scheint der 63-Jährige nicht besonders beliebt zu sein. Auch deshalb, weil er die Renovierungszeit dazu nutzte, sich von verdienten älteren Organisten recht klanglos zu verabschieden. Immerhin ernannte er neben Fajoles auch den angesehenen Thierry Escaich zum neuen Titularorganisten. Gegen den hat niemand was. Auch nicht gegen Olivier Latry und Vincent Dubois, die weiterhin Organisten bleiben dürfen. Und was diesen jungen Studenten betrifft, erklärte der Kirchenmann ohne es weiter auszuführen auf einer Pressekonferenz, habe er sich ganz bewusst für ihn entschieden, weil das ein „wichtiges Zeichen“ sei.
Doch die Misstöne sind seitdem groß. Der 34 Jahre alte Karol Mossakowski etwa, Organist an der Kirche Saint-Sulpice im Pariser Stadtteil Quartier de l’Odéon, meint auf Anfrage: „Wie kann die Nominierung eines so jungen Studenten ohne Diplom für den angesehensten Job unseres Fachgebiets ein gutes Signal für junge Leute sein?“ Eigentlich sollte in Paris ja so kurz vor der Wiedereröffnung von Notre-Dame am 8. Dezember die Freude über die Leistung der Bauarbeiter überwiegen. Nun aber kritisierte auch Mossakowskis Kollege Christophe Mantoux in der Zeitung Le Parisien: „Man ernennt doch auch keinen Kunststudenten zum Leiter des Louvre.“
„Ich habe diese Petition jedenfalls nicht unterschrieben“, betont Daniel Roth, 82, seit 1985 ebenfalls Organist in Saint-Sulpice („die 160 Jahre alte Orgel dort klingt deutlich besser als das überarbeitete Instrument in Notre-Dame“). In seinem mit Notenbüchern, CDs und Familienfotos überquellenden Wohnzimmer im 18. Arrondissement Buttes-Montmartre kritisiert der Elsässer „das schreckliche Theater, was gerade passiert“. Der junge Fajoles könne doch nichts dafür, dass man ihn ausgewählt habe. „Nun setzt man ihn unter immensen Druck.“
Darüber, wer sich „Titularorganist“ nennen darf, entscheidet in Frankreich immer der Priester oder Rektor einer Gemeinde. Zwar ist dieser aufgefordert, sich von einem musikalischen Expertengremium beraten zu lassen, die Wahl aber trifft er selbst. Wer es als Musiker an ein bedeutendes Gotteshaus wie Notre-Dame geschafft hat, der darf dort Messen und Konzerte spielen. Reich werde man damit nicht, erklärt Roth, der neben einem Klavier und einer mechanischen Orgel auch eine elektrische Großorgel im Haus hat. Mit dem Titel „Titularorganist“ aber könne man sich leichter mit Unterricht, Gastspielen, Aufnahmen oder Kompositionen ein gutes Zubrot verdienen. „Von irgendwas müssen wir ja leben“, lächelt Roth, der 1942 als Sohn eines Kaufmanns zur Welt kam und seit seinem elften Lebensjahr Orgel spielt. Von 1963 bis 1985 sogar in der Basilika Sacré-Coeur. Zwei Jahre lang unterrichtete und gastierte er auch in Washington D.C.
Nach welchen Kriterien auch immer der Notre-Dame-Rektor entschieden hat: Beliebter wurde er bei französischen Kirchenmusikern dadurch nicht. Das zeigen die fast 5000 Unterschriften unter der von einer Gruppe namens „Collectif Organistes“ gestarteten Online-Petition. Der Streit vor der Wiedereröffnung der im Jahr 1163 begonnenen gotischen Kathedrale scheint viele Wunden gerissen zu haben. Und so klingt auch das „Dresse toi, seigneur“, welches der junge Fajoles während der Vesper in Saint-Germain-l’Auxerrois intoniert, auf einmal gar nicht mehr so froh.
Ob und was er am 8. Dezember auf der bei der Feuerkatastrophe glücklicherweise durch einen Überwurf geschützten Hauptorgel mit ihren fast 8000 Pfeifen spielen wird, das verrät der neue Star von Notre-Dame leider nicht. Auch das Pfarramt schweigt dazu eisern. Und doch gilt es zu hoffen, dass der hochbegabte Student bei all dem Druck, der derzeit auf ihm lastet, auch weiterhin die Tasten trifft.