Woher weiß der sich entwickelnde Organismus eigentlich, welche Bausteine er wie zusammensetzen soll, damit daraus das Wunderwerk Mensch entsteht? Wie kommt es, dass hinterher erstaunlicherweise alles zusammenpasst, meistens zumindest? Und wie kann der Organismus erkennen, ob der Bauplan gerade ein paar tragende Knochenzellen, stoffwechselstrapazierfähige Leberzellen oder auf schnelle Übertragung spezialisierte Nervenzellen vorsieht? Die Antwort liegt in den Genen, klar. Doch die genetische Information in der DNA in den Chromosomen ist in allen Zellen gleich. Warum trotzdem die richtigen Aminosäuren zusammengesucht und miteinander zu Eiweißmolekülen passend zum jeweiligen Zelltyp verbunden werden? Das haben Wissenschaftler erst in den vergangenen Jahren genauer verstanden, indem sie der microRNA auf die Spur kamen.
Victor Ambros und Gary Ruvkun, inzwischen beide Anfang 70, haben für ihre Entdeckung der microRNA und die damit mögliche Feinmodulation der Informationsübertragung von den Genen zum fertigen Eiweiß den diesjährigen Nobelpreis für Physiologie oder Medizin zugesprochen bekommen. In der Fachsprache wird dieser intrazelluläre Vorgang als „post-transkriptionale Gen-Regulation“ bezeichnet. Um die Vielfalt der Gewebe, Organe und Körperfunktionen zu erhalten, dürfen in den Zellen schließlich jeweils nur bestimmte Gene aktiviert werden, andere müssen gehemmt bleiben. Dabei spielen microRNA eine entscheidende Rolle. Inzwischen sind schon mehr als tausend dieser winzigen Steuerelemente entdeckt worden.
Die beiden US-Forscher Ambros und Ruvkun – der eine in New Hampshire an der Ostküste, der andere in Berkeley an der Westküste geboren, aber beide lange in Harvard tätig –, haben den Prozess der Proteinbiosynthese genauer untersucht. Dass dabei die genetische Information der DNA aus dem Zellkern mittels messenger RNA (mRNA) in das Zellplasma gelangt (Transkription), wo daraus Proteine entstehen (Translation), ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts bekannt und gehört zum Oberstufenlehrplan. Sogenannte Transkriptionsfaktoren binden an der DNA und beeinflussen, welche Genabschnitte überhaupt von der RNA abgelesen und in Eiweißmoleküle übersetzt werden. Seit den 1960er-Jahren sind Tausende solcher Faktoren beschrieben worden. Die Frage, warum mal Baustoffe für den Dünndarm, mal für das Ohrläppchen, das Auge oder das Herz produziert wurden, schien damit gelöst zu sein.
Kollegen hielten die microRNA anfangs für eine Besonderheit von Würmern
Mit ihren Entdeckungen, die sie 1993 im Fachmagazin Cell publizierten, zeigten Ambros und Ruvkun jedoch, dass die Genregulation weitaus komplexer und feingranularer ablief. Dieser Vielschichtigkeit kamen sie durch Studium eines vergleichsweise primitiven Organismus auf die Spur, des nur einen Millimeter langen Rundwurm C. elegans, eines Lieblingstiers der Bioforscher. Sie entdeckten dabei Gene, die zur Herstellung einer ungewöhnlich kurzen RNA – der microRNA – dienten. Anders als sonst für RNA üblich enthielten diese kleinen Überträgermolekül-Schnipsel aber keinerlei Informationen für die Produktion bestimmter Proteine. Dafür schien die microRNA jedoch in der Lage zu sein, die Genregulation massiv zu beeinflussen und die Bildung bestimmter Proteine zu hemmen.
In der Gemeinde der Transkriptionsforscher stießen die ungewöhnlichen Ergebnisse von Ambros und Ruvkun zunächst auf wenig Resonanz. Konnte es sein, dass die microRNA nur bei C. elegans eine Rolle spielten, wie einige Forscher anfangs vermuteten? Im Jahr 2000 änderte sich die Einschätzung, denn Ruvkun konnte zeigen, dass sich microRNA nicht nur bei Rundwürmern, Fruchtfliegen und Zebrafischen – weiteren Lieblingstieren der Genforscher –, sondern auch beim Menschen und nahezu im gesamten Tierreich findet und vermutlich seit Hunderten Millionen Jahren stabil existiert. MicroRNA stellen somit einen zentralen Mechanismus der Genregulation dar, indem sie entweder die Proteinsynthese spezifisch hemmen oder gar zum Abbau bestimmter mRNA-Abschnitte führen, sodass ebenfalls manche Eiweißmoleküle nicht gebildet und nur die jeweils erwünschten Bausteine produziert werden.
Ohne dieses Wirkprinzip wäre die Evolution immer komplexerer Lebensformen mit ihren differenzierten Funktionen wohl kaum möglich gewesen. Denn ohne die Feinmodulation der microRNA entwickeln sich Zellen und Organe nicht in der gewünschten Weise oder erfüllen nicht ihre Funktion. Bei Störungen der microRNA oder Mutationen in den dafür kodierenden Genen können sich zahlreiche Krankheiten, darunter Krebs, entwickeln. Seltene Erkrankungen wie eine Form der angeborenen Taubheit, aber auch seltene Krankheiten des Auges und der Knochenbildung gehen auf Defekte in der microRNA-Bildung zurück.
Heute ist klar: MicroRNA spielt eine Rolle bei der Entstehung vieler Krankheiten
„MicroRNA sind ein enorm bedeutendes biologisches Prinzip und wichtige therapeutische Zielstrukturen“, sagt Stefan Engelhardt. Der Pharmakologe von der TU München forscht an microRNA-Wirkstoffen, um damit schwere Lungenentzündungen behandeln zu können. „Ein Großteil aller menschlichen Proteine steht unter Kontrolle einer oder mehrerer microRNA. Deshalb spielen sie in der Entstehung so vieler Krankheiten eine Rolle, beispielsweise bei Krebs, Herzkreislaufleiden und immunologischen Krankheiten.“
Wie zentral die microRNA für einen funktionierenden Organismus ist, zeigen weitere Beispiele: Wird ein als „dicer“ bezeichneter Bauteil in der Bildung der microRNA bei Versuchstieren gentechnisch ausgeschaltet, sterben viele von ihnen. In anderen Fällen sind ihre Abwehrkräfte und die Gehirnentwicklung stark beeinträchtigt. Beim sehr seltenen DICER1-Syndrom, bei dem das entsprechende Gen zur Bildung von microRNA mutiert ist, sind Betroffene anfällig für Tumore in Leber, Eierstöcken, Lunge, Augen, Nieren und Gehirn.
„Was sie für die Medizin besonders interessant macht, ist, dass man microRNA mit neuen Medikamenten, den Antisense-Oligonukleotiden, hemmen kann“, so Engelhardt. „Diese sind in klinischer Erprobung aber therapeutisch sehr vielversprechend.“
Forscherkollegen von Ambros und Ruvkun begrüßen die Auszeichnung für die beiden, denn deren „Pionierarbeit bereitete nicht nur den Weg für die neue, bahnbrechende Forschung zu neuen Therapien gegen verheerende Krankheiten wie die Epilepsie“, so der Biomediziner Janosch Heller von der Universität Dublin. „Sondern sie hat uns auch die Augen für die wundervolle Maschinerie geöffnet, mit der aufs Feinste das kontrolliert wird, was in unseren Zellen passiert.“