Der Grosse Gleichmacher  – Reisen durch ferne Länder und wissenschaftliche Gedanken

In den achtziger Jahren gab es unter dem Titel The Equalizer eine US-amerikanische TV-Serie mit einem ehemaligen Geheimdienstagenten als Protagonisten, der verzweifelten Menschen, denen Unrecht widerfahren ist, hilft, die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Die Serie hiess deshalb The Equalizer, also der Gleichmacher oder der Ausgleicher, weil er Recht und Unrecht auszugleichen versucht. 

Die Serie war so erfolgreich, dass 2021 eine Neuauflage produziert wurde. Zwischen 2014 und 2023 gab es sogar drei Kinofilme, die die Geschichte aufnahmen.  

Zerfall ist angesagt 

Im wirklichen Leben gibt es tatsächlichen einen Gleichmacher, der aber nicht so freundlich ist, wie derjenige in den Filmen. Er will auch nicht Recht und Unrecht ausgleichen, sondern einfach Unordnung stiften. Genauer gesagt, der wahre Gleichmacher will alle Strukturen zerstören und wahrhaftig dem Erdboden gleichmachen.  

Alles, was nicht mit viel Aufwand zusammengehalten wird, löst sich auf. Der Grosse Gleichmacher nagt an allem und schleift es bis zur Unkenntlichkeit. Z.B. zerbröselt ein Felsblock innerhalb einiger Jahrhunderten zu Sand. Ein Würfel Eis löst sich in einem Glas Wasser innerhalb einiger Minuten auf und wird selbst zu Wasser. Eine Bananenschale, die heimtückisch am Boden auf einen wartet, der darauf ausrutscht, wird schwarz und endet als Häufchen Humus, das vom nächsten Regen in die Umwelt verteilt wird. Wenn Sie Ihr Auto stehen lassen (ich verwende den Begriff synonym zu „Kraftfahrzeug”), rostet es still vor sich hin, verliert die Fensterscheiben, wird von Pflanzen durchwachsen und versinkt wie der Felsblock als Mineralkörner im Boden. Ok, ein Auto könnte wahrscheinlich auch nach zwei bis drei Jahren Stillstand wieder zum Laufen gebracht werden. Aber nach ein paar Jahrzehnten ist fertig. Auch Erdrutsche und Überschwemmungen sind dem Grossen Gleichmacher zu verdanken. Alles zerfällt, löst sich auf, verschwindet in der Umgebung, wenn es nicht aktiv daran gehindert wird.  

Der Grosse Gleichmacher

Der Gleichmacher hat seine Berechtigung 

Betrachten wir nochmals das Beispiel Eiswürfel: ein farbiger Eiswürfel in einem Glas Wasser kann zu Beginn wie ein Kunstwerk aussehen. Jedenfalls sieht es wie eine kleine aufgeräumte Welt aus. Hier das farblose Wasser, dort die Farbe, sauber verpackt in einem Eiswürfel. Der Würfel löst sich auf und gibt die Farbe frei. Vielleicht mischt sich die Farbe nicht sofort mit dem übrigen Wasser. Dann könnte es etwas unordentlich aussehen. Der Endzustand besteht aber darin, dass sich auch die Farbe gleichmässig im Wasser verteilt hat und alles homogen ist. Überlassen wir dem Grossen Gleichmacher das Feld, dann wird das Universum dereinst als homogenes Gasgemisch enden, in dem es keine Unterschiede mehr gibt und in dem nichts mehr passiert. Einige sprechen in diesem Zusammenhang vom Wärmetod des Universums, aber ich denke, dass es eher sehr kalt sein wird. 

Es wäre verfehlt, den Grossen Gleichmacher zu dämonisieren, auch wenn er ein Zerstörer ist. Seien wir froh, dass sich organische Abfälle zu Humus zersetzen, und dass sich tote Körper auflösen! Auch unsere achtlos weggeworfenen Kunststoffabfälle werden irgendeinmal gänzlich aufgelöst sein. Im Moment macht uns der Mikroplastik noch zu schaffen. Wir können jedoch sicher sein, dass der Grosse Gleichmacher auch den noch überwinden wird. Der Grosse Gleichmacher garantiert, dass über allem irgendeinmal Gras wächst.  

Der Name des Grossen Gleichmachers ist “Entropie” 

Vielleicht ist es jetzt für einen Spoiler Zeit: die meisten Leser werden vermutet haben, dass der Grosse Gleichmacher niemand anders ist, als die Entropie. Aber das ist nicht so sexy, schliesslich kann sich unter Entropie niemand etwas vorstellen. Hingegen kann sich jeder und jede einen geheimnisvollen, hoch gewachsenen drahtigen Mann in einem langen Mantel und mit einer grinsenden Fratze vorstellen, der nur immer als schwarze Silhouette gesehen wird und alles zwischen seinen Händen zerreibt, bis es nur noch Staub ist. Bleiben wir bei dieser Vorstellung! Der Blogger Philo Sophies nennt die Entropie in seinem gelungenen Beitrag Eine strukturierte Geschichte der Zeit “Doc Snyder’s Schlangensalbe”. Philo Sophies ist auf der Suche nach dem Wesen der Zeit und hoffte, vom belgischen Naturwissenschaftler und Nobelpreisträger Ilya Progogine dazu Antworten zu bekommen. Dabei hat Prigogine nur gesagt, dass der Zeitpfeil Entropie zur Folge hat, aber nicht, was Zeit ist. 

So sieht das AI-Bildgenerierungsprogramm „Midjourney“
die (personalisierte) Entropie

Alles in der Welt muss sich laufend gegen die Zunahmetendenz der Entropie wehren. Ein Felsblock ist zumindest so hart, dass er ein hinreichend langes Leben hat, bevor er vollständig erodiert ist. Das abgestellte Auto kann der vollständigen Auflösung ebenfalls lange genug entgehen. Wenn Sie jedoch ihr Auto davor beschützen möchten, dass es sich auflöst, wie ein Eiswürfel, dann müssen Sie es von Zeit zu Zeit in die Garage bringen, wo Gleichmacher-Schäden repariert werden. Benzinkosten und Versicherungsprämien sehen Sie ja noch ein, aber diese unnötigen Unterhaltsarbeiten! Nur haben Benzinkosten und Versicherungsprämien nichts damit zu tun, das Auto vor der Auflösung zu schützen. Dagegen helfen eben nur Unterhaltsarbeiten.  

Dissipative Strukturen 

Anders sieht es mit lebenden Systemen aus. Damit der Grosse Gleichmacher Sie für mindestens ein paar Jahrzehnte in Ruhe lässt, müssen Sie täglich Nahrung, Flüssigkeit, Wärme und möglicherweise auch Informationen aufnehmen. Es findet ein laufender Material- und Energiefluss durch Ihren Körper statt, der das einzige Ziel hat, die Körperstrukturen aufrecht zu erhalten und vor der Zerstörungswut des Grossen Gleichmachers zu schützen. Dafür erzeugen Sie gleichzeitig viel Abfall, Abwärme und Trivialitäten, die entsorgt werden müssen. Dasselbe Spiel beobachten Sie auch bei anderen komplexen Strukturen, wie Staaten, Städte, Gesellschaften, Unternehmen, Logistikketten, Familien, etc. Solche Systeme nennt man auch dissipative Systeme, vom lateinischen dissipare, was so viel heisst wie „zerstreuen, ausräumen“. Der Grosse Gleichmacher lässt grüssen. 

Konvektionsstruktur in einer dünnen Flüssigkeitsschicht, sog. Bénard-Zellen. An den dunklen Stellen sinkt die kältere Flüssigkeit hinab, an den hellen Stellen steigt die wärmere Flüssigkeit hoch. Damit solche Strukturen entstehen, muss ständig Energie zugeführt werden.

Überlegen Sie sich einmal kurz, welche Massen an Materialien und Energien täglich in eine mittelgrosse Stadt hineingepumpt werden müssen und wie viel Tonnen Abfall täglich aus der Stadt hinaus fliessen muss, damit sie ihre Strukturen halten kann! Wohnquartier hier, Industrieviertel dort, Strassenbahnnetz, Radfahrwege, Kehrichtentsorgung, Zufahrtswege für Lieferanten, etc. Jedes komplexe System muss laufend hochwertiges Material und hochwertige Energie in Abfall und Abwärme dissipieren, um daraus seine Lebensgrundlage zu filtern. Denken Sie daran: jede Bewegung erzeugt Abwärme! Schon nur das leichte Krümmen eines Fingers!

Abfall und Abwärme 

Falls die Abfallprodukte liegen bleiben und nicht exportiert werden, erstickt das System im eigenen Dreck. In Indien haben wir in einigen Städten Abfallhaufen gesehen, die die Bürger speisen, indem sie einfach ihren Haushaltmüll auf den Haufen “Ecke X-Strasse / Y-Allee“ kippen. Das wird nicht gut gehen! Abfall, sowohl physischen Abfall als auch Energieabfall (Abwärme) müssen möglichst weit weg vom Erzeugungsort, zumindest ausserhalb des Erzeugendensystems gebracht werden. Leider sind sich viele Menschen gewöhnt, ihren Abfall einfach in die unmittelbare Umwelt zu entsorgen: Zigarettenkippe wird einfach weggespickt, Auspuffgase des Autos gehen einfach in die Atmosphäre, die das Auto umgibt, Heizungsabgase gehen ebenfalls einfach in die Luft oberhalb des beheizten Hauses, etc. Nein! Abfälle gehören in jedem Fall endgültig entsorgt, ausserhalb gesellschaftlicher Strukturen! 

Ein Abfallhaufen mitten in einer indischen Stadt. Das kann z.B. zur Entleerung und zum Zerfall des Quartiers führen. Die städtischen Strukturen lösen sich auf.

Woher kommt hochwertige Energie? 

Wo immer Energie verbraucht oder umgewandelt wird, entsteht unerwünschte Abwärme, was dem Grossen Gleichmacher zugutekommt. Energie benötigen wir immer, sei es bloss, um unsere Körpertemperatur zu halten, oder sei es, um Nahrung zu beschaffen. Aber wir sollten stets diejenige Energie nehmen, die wir direkt bekommen können. Z.B. wird sicher niemand auf die verrückte Idee kommen, organische Materialien, wie Holz, Kohle, Erdöl, zu verbrennen, um damit Elektrizität zu machen, mit der man dann vielleicht die Wohnung heizt. Der Grosse Gleichmacher würde sich ins Fäustchen lachen und sich spitzbübisch freuen. Wegen des CO2-Haushalts sollte man organische und fossile Brennstoffe gar nicht erst anfassen, aber wenn, dann nur, um direkt zu heizen. Für etwas anderes sind diese Materialien völlig ungeeignet. Zum Heizen sind heute Wärmepumpen angesagt. Wärmepumpen sind so etwas, wie grosse umgekehrte Kühlschränke. Sie erzeugen auch viel Abwärme und benötigen recht viel Elektrizität. Diese muss dringend aus natürlichen Energiequellen bezogen werden, wie Wasser, Sonne, Wind oder Gezeiten. Manchmal werden solche Energiequellen “alternativ” genannt, besser wäre “primär”. Setzen Sie doch einfach ein Wasserrad in Ihre Abwasserleitung oder verlegen Sie zuhause Bodenplatten von Pavegen. Das System gibt es schon lange, aber es setzt sich nur zögerlich durch, z.B. in der englischen Stadt Telford .

Maschinen dienen gesellschaftlichen Strukturen 

Wie wir gesehen haben, gibt es zwei verschiedene Typen von Systemen: Maschinen, wie Autos und Computer, und lebende Organisationen, wie Individuen, Städte oder Gesellschaften. Während der Grosse Gleichmacher laufend versucht, letztere zu zerstreuen, müssen sie in jedem Moment hochwertige Materialien, Energie und vielleicht auch Information in sich hineinpumpen, um ihre Strukturen zu erhalten, und der übriggebliebene Abfall möglichst weit weg entsorgen.  

Ein bisschen anders verhält es sich mit den maschinellen Systemen: ihre Strukturen sind statisch. Sie zerfallen nicht so schnell. Benzin beim Auto ist wie Strom beim Computer: Sie dienen nicht der Selbsterhaltung, sondern der Funktion. Ein Computer muss gegen den Zerfall nicht unterhalten werden. Es genügt, dass er nach paar Jahren veraltet ist und ersetzt werden muss. Alte Computer werden einfach entsorgt und dem Grossen Gleichmacher zum Frass vorgeworfen. Aber Maschinen haben ja keinen Selbstzweck, wie lebende Organisationen. Benzin und Strom dienen nicht der Selbsterhaltung dieser Maschinen, sondern der Selbsterhaltung gesellschaftlicher Strukturen. Die weltweite IT (Künstliche Intelligenz, Kryptos, ERP, Banken- und Buchungssysteme, Spiele, Internet, etc) frisst eine Menge Strom und produziert eine entsprechende Menge Abwärme (und Abfall durch Entsorgung). Das dient der Selbsterhaltung der gesellschaftlichen Struktur, die durch IT geschaffen werden. Nennen Sie sie Digitalität. Ähnlich beim Auto: Benzin rein und Abgase raus dienen nicht der Selbsterhaltung des Autos, sondern der Selbsterhaltung der Mobilität, ein ebenso komplexes „Organ“ der Gesellschaft, wie z.B. die Leber in einem menschlichen Körper. 

Mobilität ist eine gesellschaftliche Struktur, die viel Material und Energie benötigt und entsprechend viel Abfall und Abwärme erzeugt, damit sie aufrecht erhalten bleibt.

Komplexität lässt sich nicht einfach kontrollieren 

Die Gesellschaften haben mittlerweile so viele komplexen Systeme geschaffen, dass, wenn der anfallende Abfall und die Abwärme einfach in die nähere Umgebung abgegeben werden, die Systeme bald einmal versagen, als würden sie im Dreck ersticken. Der Abfall, z.B. CO2 und Abwärme, sollte weiter weg von der Erde entsorgt werden als einfach in der näheren Umwelt.  

Das Zusammenspiel der Gesellschaften und ihrer Organe hat eine derart umfangreiche Komplexität angenommen, dass niemand mehr den Durchblick hat, schon gar keine politischen Kasperles oder mindergebildete Manager von (Welt)Konzernen. Die Menschen fürchten, dass die Führungsriegen die Kontrolle verlieren und wählen daher extreme Populisten, in der Hoffnung, dass diese mit ihren einfachen (aber unzulänglichen) Rezepten die Welt wieder einfacher machen werden. Sie wollen den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.  Wer mehr erfahren will, lese wieder einmal meine Trilogie Systeme – Menschen – Informationen in diesem Blog!