Reben und Roben: Was kann die neue Sat.1-Serie „Für alle Fälle Familie“?

Ein Ort namens Sonnstein könnte das „Sturm der Liebe“-Raum-Zeit-Kontinuum ganz schön durcheinanderbringen. Dort, unterhalb der malerischen Weinberge, wo die Menschen überdurchschnittlich oft mit klirrenden und gefüllten Weingläsern anstoßen, begegnen sich doch glatt Leonie Preisinger (knapp 150 Folgen lang am Fürstenhof), Florian Vogt (knapp 300 Folgen lang Teil der ARD-Serie), Max Richter (knapp 400 Folgen) und Sebastian Wegener (rund 450 Folgen). Anders gesagt: Bei der Produktion der nächsten neuen Sat.1-Daily „Für alle Fälle Familie“, verortet an der Mosel, ist die produzierende Firma Bavaria Fiction beim Cast ein Stück weit auf Nummer sicher gegangen und hat zentrale Rollen mit Schauspielerinnen und Schauspielern besetzt, die genau wissen, worauf es bei einer Daily-Produktion ankommt.


 

Sowohl die von Anna Wolfers gespielte Jule als auch ihre beiden Love-Interests (Arne Löber und Kai Albrecht) und ihr Bruder (Stefan Hartmann) sind hartgesottenen Daily-Fans aus dem ARD-Nachmittagsprogramm also schon bekannt. Ebenso wenig neu ist die Ausgangssituation: Jule, Anfang 40 und frisch getrennt, steht vor einem Neuanfang in ihrer Heimat, dem malerischen Ort Sonnstein. Mit dabei hat sie ihren Sohn Theo (Aurel Klug), der zusammen mit ihr bei der von Isabel Varell gespielten Mutter Inga leben soll.

Kaum im neuen/alten Zuhause angekommen, trifft Jule auf ihre Jugendliebe, den sportlichen Polizisten und Allrounder Marco, der gerade eine Toilette repariert und wenig später auf Anzugträger Chris, dem sie einen Kaffee über sein schniekes weißes Hemd kippt, ohne da schon zu wissen, dass sie es mit ihm auch auf beruflicher Ebene zu tun bekommen wird, ist er doch Anwalt und Jule startet als Richterin am Familiengericht. „Für alle Fälle Familie“ setzt also – wie gerade auch „Sturm der Liebe“ – bei der unentbehrlichen Lovestory auf eine Dreierkonstellation. Sehr stark anzunehmen, dass die schüchtern und unsicher wirkende Jule am Ende der 80-teiligen ersten Staffel also entweder mit dem Polizisten oder dem Anwalt ein Happy End erleben wird.

An sich ist Jule eine gute Hauptfigur für die Serie. Sie ist Mutter eines fast erwachsenen Sohnes, scheint mitten im Leben zu stehen und sich mit Anfang 40 nochmal etwas aufbauen zu wollen. Das ist eine Geschichte, die zum Träumen einlädt – und seit vielen Staffeln in einer anderen ARD-Daily, nämlich „Rote Rosen“, hervorragend funktioniert. Wäre da nur nicht die Idee gewesen, dieser Jule den Job als Richterin zu geben. Gemeinhin werden Richterinnen und Richter ja als echte Autoritätsfiguren wahrgenommen, die klar, streng und nicht zuletzt durch ihre Robe auch als unnahbar sind und denen man mit Respekt und mitunter gemischten Gefühlen gegenübersteht.

Wie nahbar kann sich eine Richterin geben?

Nun muss diese Jule als Identifikationsfigur Nummer eins der neuen Daily, die in erster Linie Herzlichkeit und Wärme ausstrahlen soll, als Richterin durch die netto 45 Minuten navigieren. Das könnte für Head of Script Nina Blum („Sturm der Liebe“, „Alles was zählt“, „Verbotene Liebe“), Head of Story Thomas Franke, ausführende Produzentin Annette Herre („Alles was zählt“, „GZSZ“ in Paris) und Produzent Jonas Baur („Verliebt in Berlin“, „Sturm der Liebe“) noch zum Stolperstein werden. Geht das Publikum bei einer Geschichte mit, in der die Hauptfigur im Beruf klare Entscheidungen trifft, nach Feierabend im Privatleben aber struggelt? Abgefedert wird das schon in der ersten Folge mit gewissen Selbstzweifeln der Protagonistin, die sich so gar nicht sicher ist, ob sie ihren neuen Job auch gewuppt kriegt – zumal es da den von Martin Armknecht gespielten Richter-Oldie Hagen gibt, der einerseits andeutet, dass ihm die Vielzahl an Frauen an seinem Arbeitsplatz suspekt und der frische Wind von Jule nicht wirklich recht ist. Und auch die strenge und sehr auf Effizienz getrimmte Direktorin Böhm (Julia Schmitt) spart nicht an Kritik, an den (natürlich moralisch richtigen) Entscheidungen der Richterin.

Wird der erste Fall am Familiengericht in der Auftaktfolge recht knapp und nebenbei abgehandelt, werden weitere bald schon etwa die Hälfte einer jeden Folge einnehmen, was auch den Aufwand bedeutet, für jede Folge zahlreiche Gastdarsteller zu finden. Die verhandelten Fälle sind für die Serie Chance und Risiko zugleich: Chance, weil sich auch Gelegenheitszuschauer des einstigen Barbara-Salesch-Senders so in der Handlung nach 18 Uhr zurecht finden, Risiko aber, weil es die fortlaufenden Handlungen einbremst. Wie man es nicht machen darf, hat in Sat.1 vor nicht allzu langer Zeit bereits „Das Küstenrevier“ mit seinem unausgegorenem Mix aus Egal-Verbrechen und Love-Storys gezeigt. Dass sich die täglichen Verhandlungen und die fortlaufende Handlung dauerhaft gut ineinanderfügen, das muss die Bavaria-Produktion also noch unter Beweis stellen.


Ein klarer Pluspunkt ist der sehr ausgewogene, wenn auch für eine Stundenserie doch sehr kleine Cast aus nur rund drei Handvoll Charakteren: Herauszuheben ist hier Isabel Varell, deren Herzlichkeit der Figur Inga unübersehbar ist und viel von der von Sat.1 gewollten Wärme beisteuert. Möglich, dass sie sich trotz ihrer zu Beginn begrenzten On-Air-Time als echtes Zugpferd von „FafF“ erweisen wird und auch Martin Armknecht ist als Richter der alten Schule sehr gut besetzt. Gleiches gilt für Stefan Hartmann, der schon am Fürstenhof einer der Lieblinge war.

Nach der ländlich-gemütlichen „Landarztpraxis“, der etwas jünger wirkenden und an „Grey’s“ erinnernden „Spreewaldklinik“ haben Sat.1 und nicht zuletzt auch Joyn mit der nächsten Daily also ein Format im Angebot, das sich einerseits, zwar gut einfügt, andererseits aber doch sehr eigene Akzente setzt, etwas langsamer erzählt ist und dennoch maximale Punkte in Sachen Eskapismus erhält. In Sonnstein dürften laut Ankündigung die Antagonisten weniger böse, die fortlaufenden Handlungen weniger dramatisch und somit alles ein wenig heiterer sein. Wie soll es dort in Sonnstein auch anders sein. Für das große Prost mit dem so präsenten Wein fehlt nun nur noch ein Erfolg, linear und insbesondere bei Joyn. Dann können die Verantwortlichen bei einem Glas Rebensaft auch überlegen, ob eine Hauptfigur einer möglichen zweiten Staffel zwingend wieder in eine Robe schlüpfen muss.

„Für alle Fälle Familie“, 80 Folgen in Staffel 1. Auf Abruf bei Joyn und montags bis freitags um 18 Uhr in Sat.1.