Die späte Entdeckung von weiblichen Künstlerinnen ist ein rezeptionsgeschichtliches Phänomen. Carmen Herrera, Shirley Jaffe und Martha Jungwirth waren nicht etwa „gänzlich unbekannt“ oder „nicht da“, während ihre Generationskohorte gerade die zentralen Marktplätze besetzte.
Den Kanon voll im Blick behaltend, arbeiteten sie an einer Sprache des Dissens, der Varianten oder des Kommentars, um dann erst als Überlebende im Alter „entdeckt“ zu werden. Nicht, weil der Kanon aufgegeben wurde, sondern weil das Publikum dabei ist, sich an dessen Historisierung zu gewöhnen. Nicht nur das „übersehene“ Werk wird damit gerettet, sondern das Museum gleich mit.
Und dennoch ist das Werk der aus Rumänien kommenden Marion Baruch, wie man es jetzt in Aachen und Krefeld besichtigen kann, eine Ausnahme in der Ausnahme, denn die jetzt 95-jährige Frau, die im Rollstuhl sitzt, brilliert an beiden Orten mit einer Bildsprache, die sie erst im Jahr 2012 erfunden hat. Es heißt, sie ließe sich „Schnittabfälle der Mailänder Modeproduktion“ anliefern.
Diese fragilen Gebilde werden – mithilfe eines Assistenten – zu raumgreifenden Kunstwerken elaboriert. Dabei reicht ein halbes Dutzend Nadeln, um aus einem Tuch, dem etwas mehr als nur die Mitte fehlt, eine Tür ins Nichts aufzumachen: „Il passaggio“.
Alt geboren, jung geworden
Marion Baruch bevorzugt dunkle monochrome Stoffe, Wolle, Baumwolle und Acryl. Flach genagelt, sehen die Installationen aus wie Wandzeichnungen. Locker genagelt (und teils gewendet), ergeben sie Reliefs. Mit Stangen unter der Decke gehalten und mehrfach ineinander verschlungen, sehen sie wie monumentale Bronzen aus. Die ganz filigranen Arbeiten werden beim Näherkommen fester; die monumentalen Arbeiten zeigen sich dabei als reines Spiel.
Skizze des Nichts: Marion Baruch, „Incursione nella forma regolare“, 2024, Ansicht NAK Neuer Aachener Kunstverein
Foto:
Simon Vogel; Courtesy die Künstlerin, Galerie Urs Meile, Beijing-Lucerne and Sommer Contemporary Art, Tel Aviv-Zürich
Geboren 1929 in Timişoara, versuchte Marion Baruch es mit einem Kunststudium in Bukarest. Vom Stalinismus frustiert, findet sie denkende Menschen an der Bezalel-Akademie in Jerusalem und bekommt 1954 ein Stipendium, um in Rom zu studieren. Der Rest ist ein modernes Märchen: Sie heiratet einen Textilunternehmer und baut mit seinem Geld eine Familienvilla inklusive Atelier im Stil des Brutalismus in der Kleinstadt Gallarate bei Mailand.
Dort bewegt jetzt eine Enkelin ihren Rollstuhl und hört nachsichtig lächelnd ihre halbwegs erblindete Großmutter auf Italienisch sagen: „Ich bin sehr alt geboren, aber bin während meines Lebens immer jünger geworden. Heute kann ich endlich sagen, dass ich wirklich jung bin.“ Ein Dokumentarfilm zeigt die Enkelin wie den Geist Baruchs; die Unbeschwertheit der Jugend, die sie nicht erfahren hat.
Kein Wunder also, dass Marion Baruch im schwebenden Ambiente des Hauses Lange, der von Mies van der Rohe entworfenen Fabrikantenvilla in Krefeld, halbwegs zu Hause wirkt. Beispiele ihres Werks belegen kühne Ausbrüche ins „Soziale Gewebe“ (so heißt die Ausstellung dort) mittels hochrangiger Kontakte, die sie ins Umfeld von Man Ray und Meret Oppenheim führen. Dabei fließen – typisch Mailand – Design und Kunst ineinander und verschmelzen zu existenzialistischem Chic.
Schattenspiel des Geistes
Im Centro Domus präsentiert sie 1971 Acrylkugeln, die menschliche Körper aufnehmen; ein wandgroß aufgeblasenes schwarzweißes Foto zeigt, wie ein Junge durch die Straßen rollt. Kugelartig auch „Ron Ron“ von 1972: ein Tier aus Polyurethan und schwarzem Kunstfell mit Schwanz (aber ohne Gesicht).
Die Gesichtslosigkeit kultiviert sie weiter, indem sie ab 1989 als Designfirma für dekorative Stoffe auf Kunstmessen auftritt: „NAME DIFFUSION“ heißt ihre bei der Handelskammer registrierte Firma. Im Krefelder Textflyer heißt es: „Baruch verwendet als Vorlagen eigene Stoffmuster, die sie als Erwerbsmöglichkeiten in den 1960er Jahren entworfen hatte.“
Insofern bleibt, bei einem derart beispielhaften Stand der Werkschau, offen, ob Baruch eine per Gelegenheit in Kunst geflüchtete Gestalterin gewesen ist oder eine konzeptuelle Künstlerin, die in der splendid isolation von Gallarate an der feministischen Bombe bastelte. Ist ihre kalte Kunst eher Affirmation oder Rache oder von beidem etwas? Vielleicht ist ihre Werkphase mit Stoffresten darauf nicht die Antwort, aber dennoch die Lösung – die Loslösung von der Form in die Unform zurück in die Form.
Klar auch, dass dies ihre Zeit ist, oder ihre Zeit soeben erst begonnen hat: eine leichte, recycelte, nomadische Kunst, deren stoffliches Zentrum leer bleibt, während die Zufallsreste ausgreifen in die Welt, als Schemen des Fleißes, als Schattenspiel des Geistes, als Skizzen des Nichts.
Insofern ist die Ausstellung in Aachen bedeutender, weil sie auf zwei Etagen des Kunstvereins – Stil: „brut“ – die aktuelle Kunst der Marion Baruch aufs Eleganteste durchdekliniert. Hier sieht man, wie sie über die Hintertür einrückt in den Kanon. Merkwürdig, dass in zwölf Jahren des Experimentierens dafür noch kein Gattungsbegriff aufgetaucht ist. „Ariadnetheater“?